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Archiv-Artikel

Nur die Farben gleichen sich

Zur Begründung der großen Koalition kann das erste schwarz-rote Bündnis nur bedingt herhalten. Zu anders waren die Voraussetzungen, zu anders die handelnden Personen

Der peinliche Boykott der Wahl Biskys offenbart nicht gerade eine tolerante Debattenkultur Die Ängste vor der großen Koalition von 1966 bis 1969 stellten sich als unbegründet heraus

Noch im Sommer 2005 gab es einen weitgehend geteilten Konsens: Auf keinen Fall sollte es eine große Koalition geben, die sich mit ihren faulen Kompromissen wie Mehltau über die Gesellschaft legen würde. Eine große Koalition bedeute Stillstand, verlorene Jahre.

Das ist vorbei, vergessen. Die politischen Funktionäre und medialen Auguren vollführten nach der Wahl mehr oder weniger elegante Rückzugspirouetten – in zwei Phasen. In der ersten Phase hieß es, „der“ Wähler habe ein solch kompliziertes Ergebnis produziert, nun müssten die Politiker damit umgehen, die große Koalition sei eben die Ultima Ratio. Zweite Phase: Die große Koalition sei gar nicht so schlecht, ja sogar eine Koalition „neuer Möglichkeiten“ (Angela Merkel).

Spätestens hier kommt die große Koalition, die von Ende 1966 bis zum Herbst 1969 drei Jahre regierte, als „historisches“ Argument ins Spiel. Wie dabei um die Deutungsmacht gerungen wird, erhellt ein Statement von Angela Merkel, die morgen zur Kanzlerin gewählt wird: „Die große Koalition im Bundestag, die eine verfassungsändernde Mehrheit besitzt, muss rückgängig machen, was die letzte große Koalition geschaffen hat.“ So Merkel im Spiegel vom 17. Oktober 2005.

Konkret meinte Merkel damit nur die so genannten Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern, aber dahinter steht eine schon häufiger verwandte vage Konstruktion, die uns die damalige große Koalition von 1966 bis 69 vor allem als verschwenderische Defizitspenderin vorstellt. Bevor nun an die neue große Koalition zur Wiedergutmachung historischer Fehler naive Hoffnungen oder düstere Besorgnisse geknüpft werden, lohnt sich ein näherer Blick auf die Konstellation der 60er-Jahre.

Noch 1965 hatte Ludwig Erhard einen glänzenden Wahlsieg für die Union errungen. Schwarz-Gelb regierte, geriet aber 1966 in Bedrängnis. Hintergrund bildete eine – retrospektiv betrachtet – kleine Delle im Wirtschaftsboom. Obwohl die Arbeitslosenquote lediglich von weniger als einem auf zwei Prozent anstieg, herrschten in der Öffentlichkeit Absturzängste vor einem Fall in eine neue Weltwirtschaftskrise. Die Regierung, in der sich Union und FDP über Steuerfragen zerstritten hatten, wurde Untätigkeit vorgeworfen. Mitten in der Legislaturperiode ging die Koalition zu Ende. Allerdings kam es nicht zu Neuwahlen, sondern zur großen Koalition.

In der SPD war dies umstritten, zumal rechnerisch auch ein Zusammengehen der SPD mit der FDP möglich gewesen wäre. Doch vor allem Herbert Wehner setzte sich mit dem Argument durch, nur durch die große Koalition werde die SPD schlagend beweisen, was ihr seit 1949 von Adenauer immer abgesprochen worden war: den Staat lenken zu können.

Die große Koalition trat vor allem als defensives Modernisierungsbündnis zur Lösung der wirtschaftlichen Krise vor die Öffentlichkeit. Gleichzeitig konnte man das Kabinett auch als Bündnis der Versöhnung deutscher Biografien interpretieren: als Kanzler Kiesinger, der es zum hochrangigen Mitarbeiter im Propagandaministerium gebracht hatte; als Vizekanzler und Außenminister Willy Brandt, der als linker Sozialist aus Hitler-Deutschland geflohen und als norwegischer Staatsbürger zurückgekehrt war. Minister für gesamtdeutsche Fragen war Herbert Wehner, der im Politbüro der KPD im Moskauer Exil gewesen war und nach dem Zweiten Weltkrieg in die Führung der SPD aufstieg. Was sind dagegen schon die skandalisierten rot-grünen 68er-Biografien?

Die Zeitgeschichtsschreibung relativiert heute die Zäsur von 1969, weil erkennbar ist, dass die Reformen (ein Begriff, der damals noch keine neoliberale Prägung hatte) bereits mit der großen Koalition eingeleitet wurden, etwa auf dem Gebiet der Justiz. Gleichzeitig sind die oft hervorgehobenen Erfolge in der Wirtschaftspolitik durchaus zweifelhaft. Ob die neokeynesianischen Maßnahmen ursächlich waren für die Überwindung der Rezession, interessiert heute allerdings nur noch die Wirtschaftshistoriker.

In der Bevölkerung, die seit 1968 die Fortsetzung des Wirtschaftsbooms erlebte, wurde an die Macht des Regierungshandelns gern geglaubt. Eine Mär ist jedenfalls, dass die staatlichen Maßnahmen der großen Koalition auf eine Aufblähung des Sozialstaates und die Stärkung der Massenkaufkraft gezielt hätten. Union und SPD setzten vielmehr auf staatliche Investitionen – während bei der „konzertierten Aktion“ – der gemeinsamen Beratungsrunde von Gewerkschaften, Unternehmerverbänden und Regierung – äußerst maßvolle Lohnabschlüsse vereinbart wurden. Als dann die Gewinne der Unternehmer explodierten, kam es zu einer „wilden“ Streikbewegung, den legendären „Septemberstreiks“ von 1969.

Retrospektiv lässt sich die große Koalition als Brücke von der Adenauer-Ära in das „sozialliberale Zeitalter“ ansehen. Damals war das ganz anders. Die große jugendkulturelle Aufbruchsbewegung in den späten 60er-Jahren und die kritischen Intellektuellen nahmen diese Regierung völlig anders wahr. Die Intellektuellen, allen voran Enzensberger, Grass und Walser, warnten vielmehr vor der Verbindung von Union und SPD als Weg in den mindestens autoritären Staat.

Die Verabschiedung der Notstandsgesetze wurde von der Außerparlamentarischen Opposition (APO) in grotesker Weise als Analogie zur Machteinsetzung 1933 verstanden. Diese Sorgen wuchsen noch, als sich der Protest gegen die große Koalition parteimäßig auf der äußersten rechten Seite formierte. Die 1964 gegründete NPD zog in etliche Landtage ein und verfehlte 1969 mit 4,3 Prozent nur knapp den Einzug in den Bundestag; bei 0,7 Prozent mehr hätte die große Koalition wohl fortgesetzt werden müssen.

Allerdings wurde die Phase der großen Koalition auch nicht zur Stunde des Parlaments, zumal die kleine FDP-Fraktion nicht viel zu melden hatte. Ob dies nun anders wird, bleibt abzuwarten. Der peinliche Boykott der Wahl Lothar Biskys zu einem der Bundestagsvizepräsidenten offenbarte nicht gerade eine tolerante und erfrischende Debattenkultur.

Was war noch ähnlich 1969 und 2005? Auch in der Wahlnacht 1969 riefen sich zwei Parteiführer zum Kanzler aus, von denen es nur einer werden konnte. Vor allem aber zeigt der Blick auf die große Koalition der 60er-Jahre eine überraschende Pointe: Die Ängste, die mit ihrer Bildung verbunden gewesen waren, stellten sich als unbegründet heraus. Die große Koalition ebnete nicht den Weg in den autoritären Staat, das politische Spektrum pluralisierte sich seither. Nach den Grünen sind die Linken neu ins Parlament eingezogen, und die kommende große Koalition ist längst nicht mehr so groß wie die gehabte.

Aber auch die Hoffnungen, mit ihr das wirtschaftliche System dauerhaft krisenfest zu gestalten, erwiesen sich als übertrieben – das stellte sich bald nach ihrem Ende heraus. AXEL SCHILDT